von Pfarrerin Ute Thalmann, Krölpa

So. Quasimodogeniti, 19.04.2020

Dieser Sonntag trägt einen merkwürdigen Namen – Quasimodogeniti – „wie die neugeborenen Kindlein“ – mitunter wird er auch als „Weißer Sonntag“ bezeichnet. Traditionell erinnert er die Getauften daran, was ihnen ihr Glaube schenkt – sich wie neu geboren fühlen zu können (denn in der Taufe wird der „alte Adam“ – das Vergangene „abgewaschen“- und der Mensch kann „gereinigt“, frei und ledig aller Sorgen und Probleme neu ins Leben gehen). Im katholischen Bereich tragen die Kommunionkinder noch einmal ihre „weißen Kleider“.

Zurück ins Leben, neu anfangen, noch einmal ganz neu beginnen, trotz allem, was war oder auch wegen allem, wer erhofft sich das nicht?! Eine neue Chance erhalten. In diesen Tagen haben viele sehnsüchtig den 19.04.20 herbeigewünscht, in der Hoffnung, dieser Tag sei ein Wendepunkt, nach dem die Normalität wieder einkehrt. Bei den Verlautbarungen der Bundeskanzlerin in den letzten Tagen wird dieser Optimismus ein wenig gedämpft. Es ist ganz natürlich, dass sich Menschen nach einer Zeit der Kontaktsperre wieder nach Öffnung sehnen, dass etwas mehr Freiheit im alltäglichen Leben möglich ist. Dass sie nach Beziehungen und Kontakten lechzen, nach dem, was ihnen Freude und auch Mut schenkt, sie bestärkt. Die meisten verstehen natürlich, dass das nicht von einem Tag auf den anderen völlig freigegeben werden kann und der Schutz der Älteren und Kranken, aber auch des medizinischen und pflegerischen Personals, aber auch anderer wichtiger Personen weiterhin gewährleistet sein muss. Trotzdem ist mancher enttäuscht. Mag sein, dass es Menschen gibt, die jetzt auch von Gott enttäuscht sind, zu dem sie ihre Nöte und Sorgen und vor allem auch ihre Bitten im Gebet gebracht haben. Fern scheint er – weit weg. So als hätte er die Menschen vergessen.

Vor 2500 Jahren bereits haben Menschen solche Gedanken gehabt. „Mein Weg ist dem Herrn verborgen!“ „Mein Recht geht an meinem Gott vorüber!“ Israeliten, die nach einem verlorenen Krieg aus ihrer Heimat nach Babylon verschleppt wurden und dort über zwei Generationen im Exil leben mussten. Sie zweifelten, sie waren enttäuscht, ihr Glaube war angefochten. Nicht zuletzt, weil sie in einer fremden Kultur und unter einer fremden Religion ihr Dasein fristeten. Hat unser Gott keine Kraft? Ist er machtlos? Warum hat er uns so im Stich gelassen? Warum kommt er uns nicht zu Hilfe? Im Prophetenbuch Jesaja ( Kap.40, 26-31) lesen wir, worauf der Prophet seine Glaubensgeschwister hinweisen will:

Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn Jakob, und du Israel, sagst: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber?“ Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?

Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt den Müden Kraft und Stärke dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Der Prophet lädt Menschen ein: Schaut auf – schaut euch um! Hebt eure Augen auf! Weitblick sollen sie entwickeln: fürs eigene Leben – aber auch für das was war und was Menschen bereits durchlebt haben. Wie war das möglich? Schaut auf – schaut euch um! Die erwachende Natur spricht für sich. Nach jedem Winter erwacht sie im Frühling! Die Bäume und Gärten blühen, die Vögel singen und wir erleben wunderbare sonnige Tage! Jeden Morgen geht die Sonne auf, nach jeder Nacht kommt ein neuer Morgen. Der Prophet fragt: Was ist der Grund dafür? Wer hat dies alles geschaffen? Und er fragt den Glauben der Israeliten – selbst im fremden – religiösen Umfeld- an. Erinnert sie an die wirkmächtige Kraft Gottes, an das, was Generationen vor ihnen mit Gott erlebt haben, was ihren Glauben begründet: dass er sie alle herausgeführt hat und sie mit Namen ruft. Dass sie ihm bekannt und wichtig sind, dass seine Kraft und Macht so groß sind, dass er keinen verloren gehen lassen wird. Er erinnert sie an den Ewigen, der die Erde in ihrer Gesamtheit geschaffen hat, der weder müde noch matt wird, der einen unausforschlichen weisen Verstand hat.

Und heute? Was kommt uns in den Sinn, wenn wir unsere Augen erheben? Wenn wir unseren Blick aufheben? Zuerst bekommen wir vielleicht eine ganz andere Sicht auf die Dinge- vielleicht auch ein neues Gefühl. Da entdecke ich die vielen Blüten, die sich in diesen Tagen an den Bäumen öffnen. Da staune ich über den blauen Himmel, über das morgendliche Konzert der Vögel im Wald. Da sieht mit einem Mal die Welt nicht mehr so traurig aus – und ich natürlich auch nicht. Da wächst die Freude und vielleicht auch die Dankbarkeit darüber, dass trotz allem, solche schönen Dinge zu entdecken sind.

Und wenn ich damit noch mehr Weitblick gewinne, dann kommen mir die Erzählungen meiner Großeltern und Schwiegereltern in den Sinn, die Staunenswertes zu berichten hatten über Bewahrung im Krieg, über Dinge, die sich gut gefügt haben, über manchen Schutz, den es gab bei schwierigen Aufgaben und den Mut und die Kraft, sich an Neues, Unbekanntes zu wagen, zurück ins Leben zu gehen – etwas aufzubauen. Und das aus dem Vertrauen heraus, dass Gott begleitet, stärkt und hilft. Dass das Vertrauen auf ihn, dass er auch über Durststrecken oder in völlig neuen und unbekannten Situationen Kraft schenken kann, ja Flügel verleiht, sich zu erheben oder auch nicht müde zu werden im (Lebens-)Lauf. Selbst wenn unsere jetzige Lage mit keiner vergleichbar ist, oder vielleicht gerade deshalb, sind wir eingeladen, Weitblick zu entwickeln, Entdeckungen zu machen und Zusammenhänge neu zu sehen: und das im Vertrauen auf Gottes Wirken in der Zeit, selbst da, wo wir herausgefordert sind oder auch Gefahr laufen, unseren Glauben aufzugeben. Vielleicht hilft uns der Blick auch auf das, was wir bisher auch in der Zeit der Kontaktbegrenzungen oder auch der nötigen Quarantänen gewonnen haben an Einsichten über uns und andere, über den Wert der Beziehungen und die Nähe zu Menschen, über die Erfahrungen, dass große Nähe und Verstehen auch „auf Abstand“ möglich sind und dass wir solche schwierigen Zeiten miteinander bisher gemeistert haben. Und beim genaueren Hinsehen die Entdeckung, wie Gott auch darinnen wirkt und erfahrbar wird. Als Glaubende möchte ich sagen, als der, der Ideen Flügel verleiht, der Menschen zueinander bringt und auch Trost und Nähe spüren lässt.

Ich bin überzeugt, dass solch neuer Blick – solches Aufblicken – uns ermutigen kann, auch die Lage und Veränderungen nach dem 19.April miteinander anzunehmen und zu meistern.

Ein Wort von Dietrich Bonhoeffer möchte ich uns mit auf den Weg geben:

Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,

Gutes entstehen lassen kann und will.

Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will,

wie wir brauchen.

Aber er gibt sie uns nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.

In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.

Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist,

sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen immer wieder das Gespür dafür,

sich wie neu geboren zu fühlen, den Mut zu achtsamen Schritten zurück ins Leben

und die hoffnungsvolle Erfahrung, dass Gott uns darin begleitet.

(aus der Gefängniszeit 1944/45)

Ihre Ute Thalmann