Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
(Rainer Maria Rilke, 21.09.1902, Paris)
In diesen Tagen spüren wir, wie sich der Herbst einstellt – mancher denkt wehmütig, ein anderer auch dankbar an den Sommer zurück – mit seinen langen hellen Tagen, mit Sonnenschein. Viele Erlebnisse und Erfahrungen säumen vielleicht die vergangenen Wochen-
Ferienzeit, Urlaubszeit – eine Zeit zum Entdecken und Genießen.
Anders noch der Dichter R. M. Rilke: für ihn schwingt Abschied mit in diesem Gedicht. Tatsächlich hat er sich 1902 von seiner Frau, der Bildhauerin Clara Westhoff und seiner Tochter Ruth getrennt und ist nach Paris aufgebrochen, um einer künstlerischen Arbeit beim Bildhauer Rodin nachzugehen. Er spürt den Herbstwind, der an die Vergänglichkeit erinnert. Er hat aber auch den Herbst als Zeit der Reife im Blick. Und er bittet Gott, diese zu schenken- nicht nur für die Früchte auf den Feldern und den Wein, auch für das eigene Leben.
Nach dem Erntedankfest (2.10.22) beginnt eine stille, besinnliche Zeit, mit kürzer werdenden Tagen, die ihren Bogen bis hin zum Totensonntag/ Ewigkeitssonntag (20.11.22) schlägt, in der Gedanken zum Miteinander, zur Hilfe und Unterstützung des Nächsten, zum Sinn des Lebens und der Buße und Umkehr eine Rolle spielen. Menschen gehen zu den Gräbern ihrer Angehörigen und bedenken damit auch ihre eigene Endlichkeit. Rilkes letzte Strophe mag in manchen Ohren ernst klingen, sie ist aber auch eine Einladung, den Herbst als „Einkehrzeit“ zu nutzen, die „Ernte“ des vergehenden Lebensjahres in den Blick zu fassen, achtsam und bedacht zu sein, statt sich treiben zu lassen, wie ein Blatt im Wind.
Wenn ich Rilke lese, habe ich immer eine ältere Dame vor Augen, die sich im „Herbst ihres Lebens“ zur Aufgabe gemacht hat, viele seiner Gedichte auswendig zu lernen, ihre Gedanken und geistigen Kräfte somit zu schulen, und natürlich auch anderen Menschen Lyrik und wertvolle Erfahrungen und Weisheit nahe zu bringen. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Vielleicht kann uns Rilkes Gedicht, obgleich es schon 120 Jahre alt ist in diesen Herbst begleiten und uns auf seine Weise „lehren“.
Eine behütete – erfüllte stille Zeit wünscht Ihnen allen
Ute Thalmann