5. Station: Abstand und Beistand

Text: Johannes 6, 68 (Lehrtext der Herrnhuter Losungen vom 21.3.2023)

HERR, wohin sollen wir gehen? DU hast Worte des ewigen Lebens.

Gedanken zum Text

Wir wollen wissen, was kommt, was auf uns zukommt, worauf wir gefasst sein können oder müssen. Denn wir haben das Bedürfnis, uns abzusichern. „Zukunft sichern“ heißt ein Werbeslogan, der zurzeit auf vielen Plakaten zu sehen ist. Dabei beweist uns das Leben doch immer wieder: Das ist nicht möglich. Wir wissen nicht, wohin uns unsere Wege führen. Plötzlich ist alles anders. Da kommt einer vom Feld zurück in die Stadt, müde und abgekämpft, freut sich auf den Feierabend und die Festtage. Bald schon hört er den Lärm der Leute. „Nur mal kurz gucken, was da los ist“, denkt er und schon ist er drin im Strudel der Menge, die johlend und pfeifend mit einem Verurteilten mitläuft, der den Querbalken seines Kreuzes zur Hinrichtungsstätte schleppen muss. Er will auf Abstand bleiben, am liebsten wieder verschwinden, denn er hat keine Freude an Grausamkeit. Jetzt strauchelt der arme Kerl mit dem Balken auch noch und bleibt stehen, die Menge mit IHM und der Lärm des Hohngelächters und der Schmährufe wird unerträglich, nur übertönt vom Befehlsgeschrei der Soldaten. Schlagartig ist es still, als ein Soldat wahllos in die Menge greift und ihn am Arm erwischt, herauszieht und befiehlt, den Kreuzbalken des Verurteilten zu tragen. Die betretene Stille weicht nicht, als sich der Zug wieder in Bewegung setzt. Alle in der Menge sind froh, dass es nicht sie getroffen hat. Niemand will jetzt auffallen, denn keiner will riskieren, als Nächster den Balken tragen zu müssen. Abstand zu halten ist die einzige Chance zu entkommen. Die Ruhe passt den Soldaten schon nach wenigen Metern nicht mehr. Sie wollen ihren bösen Spaß, den Verurteilten leiden zu sehen und die tobende Menge der Schaulustigen dazu. So schnell, wie er hineingezogen wurde, ist er wieder draußen, kann auf Abstand gehen, verschwindet in der Menge und ward nicht mehr gesehen. Später muss er sich wohl erkundigt haben, wessen Kreuzbalken er da getragen hatte, wem er für kurze Zeit Beistand gab auf SEINEM Leidensweg. Er wird mit den Jüngern ins Gespräch gekommen sein. Sonst wüssten wir ja seinen Namen nicht: Simon von Kyrene.

Gedanken zum Bild:

Mein Enkel Joscha zeichnete den Umriss seiner rechten Hand und füllte die Fläche mit verschiedensten Schraffuren und Farbeinlagen. Entstanden ist ein einmaliges, unverwechselbares Bild – so wie die Hände jedes Menschen einmalig und unverwechselbar sind. So können die Zugänge zu Hochsicherheitsbereichen mit Handflächenscannern gesichert werden. Aber viel wichtiger ist noch: Was tun wir mit unseren Händen? Manchmal werden wir gar nicht gefragt – wie Simon von Kyrene. Plötzlich wird von uns verlangt, zuzufassen, obwohl wir uns viel lieber auf Abstand halten würden. Da liegt einer am Straßenrand, offensichtlich hilflos. Das Gesetz verpflichtet zur Hilfeleistung. Aber fassen wir auch wirklich zu? Na gut, der Griff zum Handy für den Notruf ist ja auch eine Möglichkeit. Die ist auf jeden Fall zu empfehlen, wenn wir wie Simon von Kyrene plötzlich Zuschauer von Gewalt werden. Sicher, das wünscht sich wirklich niemand. Aber ist es nicht so: Ich habe den Eindruck, dass immer weniger Leute überhaupt noch wissen, was die Worte „Respekt“ im Umgang miteinander oder gar „Höflichkeit“ bedeuten könnten – oder, um im Bild zu bleiben: Dass sie ihre Hände auch zu etwas anderem gebrauchen könnten als sich die eigenen Taschen zu füllen und ihre persönlichen Ansprüche unbedingt durchzuboxen. Wie soll es auch anders gehen, wenn das Geld der einzige Wert ist, der in allen Altersgruppen und gesellschaftlichen Schichten fraglos anerkannt wird? Aber Gott sei Dank, es gibt sie immer noch und immer wieder, die helfenden Hände, ob nun gezwungenermaßen wie bei Simon von Kyrene oder freiwillig und aus Nächstenliebe – nicht nur in Notlagen, sondern auch in den Untiefen des Alltags. Es gibt sie, die Menschen, die wie Simon ein kurzes oder auch ein langes Stück des Leidensweges eines anderen mitgehen und tun, was sie können. Manche haben sogar die Kraft, den Weg bis zum Ende mitzugehen, bis dahin, „wo nichts mehr zu machen ist“, wie man so sagt. Aber was heißt hier „nichts“? Eine Hand kann die andere halten, bis wir ihn oder sie in die väterliche Hand Gottes legen. In dieser Hoffnung leben wir wie die Jünger, von denen einer einst fragte: HERR, wohin sollen wir gehen? DU hast Worte des ewigen Lebens.

Gebet:

Barmherziger Gott, mit DEINEN Worten des ewigen Lebens öffnest DU uns den Horizont DEINER Liebe, der unseren Lebensweg überspannt. Wir danken DIR für DEINE stärkende Nähe und die Gemeinschaft der Menschen, die aus dem Vertrauen zu DIR leben.

HERR, unser Gott, hilf DU uns, dem Weg DEINES Sohnes zu folgen, auch wenn uns vieles davon ablenken oder abbringen will. Danke HERR, dass DU uns durch Jesus Christus gezeigt hast, dass Leid und Tod nicht das letzte Wort haben werden, sondern dass unser Weg zu DIR führt.

Barmherziger Gott, gib uns Einsicht und Kraft, für die da zu sein, die DU zu unseren Nächsten bestimmt hast, für sie Hand anzulegen, wenn wir gebraucht werden und für sie zu beten, auch wenn uns die Hände gebunden sind.

HERR, unser Gott, wir bitten DICH für alle, die sich nach DEINER Güte sehnen und DEINER Hoffnung. DU traust uns zu, dass durch uns DEIN Licht in unserer Welt verbreitet wird. Ruf uns aus unseren Bedenken, unserer Furcht und stärke unser Vertrauen in DICH.

Barmherziger Gott, an DEIN Herz legen wir alle, die in diesen Tagen ganz besonders DEINES Trostes bedürfen: die unzählbar vielen Opfer der Kriege dieser Welt, der offenen und versteckten Gewalt und der Naturkatastrophen.

HERR, unser Gott, wir bitten DICH, bring Frieden in unser Reden und Handeln, segne die Schweigenden. Den Verlorenen, den Verbitterten, den Einsamen sei nahe mit DEINER Liebe. Reiche den Sterbenden DEINE väterliche Hand und führe sie in DEINE Ewigkeit.

Erbarmender Gott, erhöre uns. Amen.