Text: 5. Mose 4,9 (Tagesspruch zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus, 27. Januar, Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz 1945)

Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.


Gedanken zum Text:

Es gibt Dinge, Regeln, Wahrheiten, die darf man einfach nicht vergessen. Sonst geht es gründlich schief im Leben oder man fährt im wahrsten Sinn des Wortes vor den Baum. Weiß man doch, oder? Was aber, wenn da eine völlig unbekannte Situation auf die Menschen zukommt, die niemand bisher so erlebt hat? Gelten da die alten Regeln, die bekannten Wahrheiten weiter? Das Volk Israel stand vor solch einer völlig unbekannten Lage: Nach 40 Jahren Wüstenwanderung die Einwanderung ins verheißene Land. Ein echter Kulturschock, vom kargen Nomadenleben mitten hinein in die pulsierende Welt der Stadtstaaten an der Mittelmeerküste. Diesen Sprung mussten sie wagen – und noch dazu ohne ihren bewährten Anführer, den Mose. Der würde das nicht mehr erleben. Deshalb legte er den Seinen das Wichtigste ans Herz. Vergesst nicht, was wahr ist und zu wem ihr gehört! Nein, wir ziehen nicht ein in ein gelobtes Land und sind es auch nicht vor 32 Jahren. Wir gehen unseren Weg. Aber wir erleben als Volk, als Menschheit gerade auch eine völlig unbekannte Lage, die mit keiner der bisherigen Grippewellen wirklich vergleichbar ist. Denn in diesen waren solch drastische Einschnitte in die lieb gewordenen Gewohnheiten der Leute nicht erforderlich. Klar, dass da niemand begeistert ist. Aber wie ist das jetzt mit den Regeln eines fairen Umgangs miteinander – und mit der Wahrheit, dass jede auch noch so schwerfällige Demokratie besser ist als eine Diktatur? Dass keine Diktatur schön geredet werden kann, und schon gar nicht die jener unseligen zwölf Jahre, die ausreichten, um Tod und Leid in nie gekanntem Ausmaß über die Menschen zu bringen, besonders über die Nachfahren der Israeliten? Dass diese Erinnerung bewahrt werden muss, auch wenn sie schmerzt, damit nicht die ganze Gesellschaft in Schieflage gerät? Drängende Fragen, auf die es nur eine zukunftsoffene Antwort gibt: Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.

Zeichnung J. Reichmann

Gedanken zum Bild:

Ein oft gezeichnetes und gemaltes Bild: Die Taube, die zur Arche Noah zurückkehrt mit dem frischen Olivenzweig. Noch mitten in der unendlichen Flut, kein Land in Sicht, hatte sie Noah ausgeschickt, um ein rettendes Ufer zu suchen. Jetzt, nach vergeblichen Versuchen, kommt sie mit dem Zweig zurück. Sie wurde zum Symbol der Hoffnung schlechthin, weil sie anzeigt, dass der Weltuntergang für die Arche durch Gottes Hilfe bald überstanden sein wird. Sie ist nicht verloren und wird nicht untergehen. Das war sicher auch der Gedanke des Künstlers, der dieses Motiv aufnahm in das Angebot des Museumsshops der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, in dem ich es im Jahr 2012 entdeckte. Er gestaltete es ein wenig anders: Die Taube ist auf seinem Druck bereits auf dem Dach der Arche gelandet. Sie wendet ihren Schnabel dem Betrachter zu, so als ob sie ihm den Olivenzweig überreichen wollte – also den Menschen, die den Weltuntergang der Shoa überlebten und allen, die mit ihnen die Erinnerung wachhalten. Denn allein die Erinnerung macht Hoffnung, dass sich solch ein unvorstellbares Verbrechen nicht wiederholt. Hoffnungsbilder, Hoffnungsworte brauchen wir, um trotz allem nach vorn schauen zu können, um die Kraft zu haben, aus der Vergangenheit wirklich zu lernen und in allen Herausforderungen des Alltags zu spüren: Es gibt keine gottlose Zeit – selbst dann nicht, wenn die Wellen immer höher zu schlagen scheinen oder immer noch kein Land in Sicht ist – nicht nur in der Pandemie.