Schriftwort: Lukas 6,36 (Jahreslosung)
Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Liebe Schwestern und Brüder!
Zu Beginn des neuen Jahres 2021 vernehmen wir die Worte: Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Mein erster Impuls ist: Das hört sich gut an. Zumindest für mich, der ich das alte Wort „barmherzig“ noch verstehen kann, das nur noch im „innerkirchlichen Dienstgebrauch“ verwendet wird. Außenstehenden müsste ich es übersetzen. Aber das ist nicht leicht. „Verständnisvoll“ könnte passen, „geduldig“ ebenso, „gütig“ und „freundlich“, „aufmunternd“ und „nachsichtig“ – und noch viel mehr. Und doch trifft keines den ganzen Sinn des Wortes „barmherzig“.
Ich bleibe dabei: Das hört sich gut an als Leitwort für das neue Jahr, auch wenn es schwer zu fassen ist. Denn unser Zusammenleben könnte ruhig ein wenig mehr Barmherzigkeit vertragen, meinen Sie nicht auch? Vielleicht würde die ja helfen gegen die vielen verdeckten Spannungen, die durch die Krise immer offener zutage treten?
Aber wenn schon das Wort „barmherzig“ nicht mehr zu finden ist im allgemeinen Sprachgebrauch, wie sieht es dann mit der Umsetzung aus im alltäglichen Leben? In dem es mehr als genug Minenfelder gibt – und es wäre ein Wunder, wenn wir im neuen Jahr nicht auch wieder hinein stolperten! Wie sagt schon ein altes Sprichwort: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Barmherzig sein, wenn der andere nicht aufhört zu sticheln – auf Arbeit, in der Schule, im Mehrfamilienhaus, über den Zaun? Oder wenn der andere mir krass die Vorfahrt nimmt? Wie soll das gehen?
Oder in den Gemeinden? Barmherzig sein, wenn einige auf Traditionen pochen und andere sie nur als unnötigen Ballast betrachten? Oder in den Familien? Barmherzig sein, wenn jeder nur seinen Stiefel macht? Klar, das ist nur eine kleine Auswahl der allgegenwärtigen Minenfelder, die hinter der nächsten Ecke schon wieder auf uns warten. Die Frage ist: Wie kommen wir da durch? Ist die Barmherzigkeit ein guter Wegweiser? Ist es nicht besser, sich zu wehren? Klüger und cleverer zu sein als die, die einem das Leben schwer machen, die so komisch sind, so dämlich, so völlig hinterm Mond oder so durchtrieben, eben ganz anders als wir selbst? So funktioniert doch die Welt: Der Schlaueste hat die besten Chancen, oder?
Ist die Schlauheit also ein besserer Wegweiser durchs Minenfeld? Bestimmt nicht. Denn ich kann schlau sein wie ich will – es braucht bloß ein Reizwort zu fallen oder mir diese oder jener über den Weg zu laufen – schon fällt das Visier und ich reagiere nach einem bestimmten Muster. Und das geschieht so schnell, dass es mir weder bewusst wird noch dass ich gar darüber nachdenken würde. Da bin ich kein Einzelfall. Jede und jeder von uns trägt solche Reaktionsmuster in sich, geprägt in der frühen Kindheit oder sogar geerbt von den Vorfahren. Diese Muster aktivieren wir entsprechend der Situation – und schon fliegt uns im Minenfeld wieder einmal alles um die Ohren und wir haben eine ganze weile mit der Schadensbegrenzung zu tun.
Da könnte man doch glatt denken: Um wie vieles einfacher wäre das Leben, wenn alle gleich tickten, denn Gleiches gesellt sich doch gern mit Gleichem, oder? Dann würde das Zusammenleben endlich stressfrei und angenehm. Ob das klappt? Zum einen bleibt das eine Fantasie, denn die anderen sind eben anders und werden es auch bleiben. Und zum anderen: Dann hätten auch alle anderen die gleichen „Aufreger“ und die gleichen „Antworten“ darauf – ob das entspannter wäre, denke ich nicht. Im Material für eine Friedensdekade vor einigen Jahren fand ich mal einen sehr nachdenkenswerten Spruch, der hieß: Lieber Gott, DU weißt, dass einer von meiner Sorte genug ist.“
Wir müssen lernen, miteinander auszukommen und miteinander umzugehen. Dabei sagt die Erfahrung: Das ist anstrengend! Sich auf andere Menschen einzustellen, bedeutet immer wieder anstrengende Arbeit. Viel bequemer ist es, sie in Schubladen einzusortieren und nur mit denen zu reden, die meine Ansichten und meine Meinung teilen. Aber dann wird das nichts mit der Barmherzigkeit. Dann bleibt sie ein Fremdwort.
Lassen wir uns aber auf die Anstrengung ein, kann sie sogar zu einem Ergebnis führen, das wir so noch nicht erlebt haben. Es ist ein weiter Weg bis dorthin, für den ein kurzes Jahr wohl kaum ausreichen wird. Aber er lohnt sich.
Er beginnt wie jeder Weg mit dem ersten Schritt – nicht ins Ungewisse, sondern auf uns selbst zu. Diesen ersten Schritt gehen wir nämlich nicht selbst. Diesen ersten Schritt geht Gott – auf uns zu in SEINER Barmherzigkeit und Liebe. ER schenkt uns das Leben und die Möglichkeit, es zu gestalten, unsere Gaben und natürlich auch unsere Grenzen. Und ER traut uns zu, dass wir das Beste daraus machen können. Das ist die Voraussetzung, die Grundlage. Sonst kämen wir keinen Schritt voran und blieben hängen an unseren Stereotypen und Vorurteilen. Denn wir können ja nur lieben und andere barmherzig aushalten, wenn wir uns selbst als geliebt und angenommen erfahren können. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sagt der barmherzige Gott zu jeder und jedem von uns. „Liebe deinen Nächsten und dich selbst“, dürfen wir hören. Denn am Anfang des Weges und bei jedem Schritt den du gehst, reicht dir der HERR die Hand, damit du dich so annehmen kannst, wie du bist und dir zutraust, dich auf den Weg zu machen. Denn eines ist gewiss: Mag der andere dir auch das Leben auf welche Art auch immer schwer machen – er hat niemals die Chance, dir die Liebe Gottes zu rauben. Was auch geschieht, keine Macht der Welt kann uns trennen von der Liebe Gottes.
Und mit Gottes Hilfe trauen wir uns, den zweiten Schritt zu gehen: Auch wieder auf uns zu. Denn wir müssen auch auf uns selbst hören lernen. Ja, Sie haben richtig gelesen, liebe Schwestern und Brüder. Mir selbst zuhören lernen: Wie rede ich? Was denke ich in den Situationen, die mich aufregen? Was kommt wann in mir zum Klingen, in welchen Klangfarben oder Geräuschen? Und welchen Akkord wähle ich als Antwort aus? Denn das ist die Erkenntnis aus dem Zuhören: Ich kann auswählen! Ich muss nicht immer mit den gleichen Stimmen und Tönen reagieren. Ich kann die Stimmen meines inneren Orchesters dirigieren, den Einsatz geben und immer neue Varianten ausprobieren. Das überrascht mich selbst und die anderen und befreit ungemein. Ich werde freier, entspannter, möglicherweise sogar barmherziger…
nach dem zweiten fällt der dritte Schritt schon viel leichter: Nach dem Hören kommt das Sehen, das Hinsehen lernen. Und jetzt erst kommt der andere in den Blick. Weit verbreitet ist der Spruch: „Wir glauben nur, was wir sehen.“ Aber in Wahrheit ist es genau umgekehrt: „Wir sehen in der Regel nur das, was wir von vorneherein schon glauben.“ Glauben Sie nicht? Dann fragen wir Jesus.
Der erklärt es in einem einzigen Satz – in dem vom Splitter im Auge des anderen und dem Balken im eigenen Auge: An dem, was du schon in dir trägst (den Holzbalken), kannst du nicht wirklich vorbei sehen. Deshalb siehst du auch beim anderen nichts anderes als Holz (den Splitter). Und so wird der andere in unseren Augen plötzlich ein Holzkopf – und schon ist das Feindbild fertig, das den Menschen verdeckt, der uns gegenüber steht.
Mit Feindbildern rede ich nicht. Vor denen muss ich mich schützen. Deshalb höre ich ihnen auch nicht zu. Denn ich weiß ja, was sie sagen. Da kann nichts Gutes kommen. Und schon ist meine Welt wieder ganz einfach, schwarz und weiß getrennt und ich bleibe in meinen Denkmustern gefangen. Wenn ich aber den Weg weitergehen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als hinter dem Feindbild den Menschen zu sehen und ihm eine Chance geben, gehört zu werden. Zu hören und zu sehen, welche Gründe er haben mag für dieses oder jenes Verhalten. Denn auch er ist ein Mensch, ein Kind Gottes, so schwer mir das vielleicht auch fallen mag, in dieser Situation zu erkennen. Gelingt mir das, werde ich freier, friedlicher, vielleicht sogar barmherziger…
Ich gehöre allein zu Gott – und nicht meinem Ärger oder den Sorgen des neuen Jahres. Darauf kommt es an. Wie sich das zeigt im Alltag? Vielleicht gebe ich nicht nur mir, sondern auch der anderen Person mehr Raum – gehe ihr vielleicht eine Weile aus dem Weg – oder zähle innerlich bis zehn, bevor ich antworte. Vielleicht noch besser: Vor der Antwort eine kurze Bitte an den HERRN: HERR hilf! – dann hat ER plötzlich Raum und öffnet meinen Blick – vielleicht auch für die Sicht des anderen, wer weiß?!
Das ist auch im neuen Jahr eine gute Idee: Für die Menschen zu beten, die es uns schwer machen. Denn dann geben wir der Barmherzigkeit Gottes in unseren Gedanken und Gefühlen den weitesten Raum. Machen wir im Übrigen in jedem Gottesdienst, wenn wir das Vaterunser beten – den Satz mit der Schuld und den Schuldigern.
Der Weg durch das neue Jahr liegt vor uns. Wird er für uns zum Weg hin zur Barmherzigkeit im Leben miteinander werden? Das schenke uns Gott, der Barmherzige. Darum bitten wir IHN von ganzem Herzen.
Amen